Kochkurs: Simone de Beauvoir

Vorbemerkung: 
Dieser Aufsatz ist 2007 (während meines Bachelorstudiums) im Rahmen eines Seminars, geleitet von Univ.-Prof. Dr. Renate Kroll,  entstanden. Es geht um eine Betrachtung des literarischen, essayistischen und ästhetischen Anspruchs in L’Amérique au jour le jour. Dies stellte insofern eine Herausforderung dar, dass de Beauvoir und mithin ihre Reiseberichte vielfach "nur" als die einer Philosophin, Vordenkerin des Feminismus und der Geliebten von Sartre, jedoch selten als die einer Schriftstellerin betrachtet werden.
Da nach wie vor die Quellenlage zu einer solchen Betrachtung recht dünn ist, stelle ich diesen Aufsatz  - für Interessierte online - selbstverständlich unter der Auflage, dass bei Verwendung vernünftig zitiert wird:
Gollmer, Karoline (2007). "Die Reiseberichte Simone de Beauvoirs: Am Beispiel von Amerika Tag und Nacht". Online unter: <http://sparflamme.blogspot.de/p/die-reisetagebucher-simone-de-beauvoirs.html>. 25.10.2012.


Die Reiseberichte Simone de Beauvoirs 

Am Beispiel von Amerika Tag und Nacht



1. Einleitung
2. «L’Amérique au jour le jour»
3. Die Tagebuchform
4. Der literarische Anspruch des Reiseberichts
5. New York – Paris: Ein transatlantischer Gegensatz
6. Der essayistische Anspruch des Reiseberichts
7. Schlussbetrachtung
Quellen


1. Einleitung

Die volkstümlichen Aussprüche Reisen betreffend driften ein wenig auseinander, wobei sie sich im Grundkern einig sind. Wenn einer eine Reise unternimmt, dann kann er viel erleben – und vor allem viel erzählen, zum Beispiel in der Form eines Reiseberichts bzw. -tagebuchs, die das Erlebte nicht nur reproduzieren, sondern es gleichsam für die Nachwelt konservieren. In der Literatur nimmt das Reisetagebuch eine Sonderstellung ein, da es die Grenzen zwischen subjektiv geprägter, meist literarisch überformter Beschreibung und authentischer Berichterstattung verschwimmen lässt. Mit den Worten von Peter Stadelmeyer ausgedrückt: „Gefällig servierte Informationen und der Reiz sehr persönlichen Erlebens verbinden sich zu einer Literaturform, die immer ihre Leser hat“ (ders. 1951). Ein Reisetagebuch sollte Einblick in das Erleben fremder Kulturen bieten und ist zugleich eine intime Form des Miterleben-könnens: Der Lesende folgt dem Reisenden auf seinem Weg durch das fremde Land, begibt sich auf Entdeckertour.

Vielleicht nehmen die Reiseberichte der Reisen nach China und Amerika wegen dieser trivial erscheinenden Form eine eher untergeordnete Stellung in den Darstellungen des Gesamtwerks der Simone de Beauvoir ein, obgleich beide ein Zeugnis der ideologisch gefärbten Sicht der Beauvoir auf das jeweilige Land sind – ob es ihre Begeisterung für den Kommunismus war, die im Bericht der Chinareise so deutlich zum Ausdruck kommt, dass es schon an Propaganda erinnert, oder ob es ihr Hang zur Unabhängigkeit war, der sie den American Way of Life so hoch schätzen ließ und ihre Beschreibung des Landes maßgeblich beeinflusste. Die Reiseberichte sind insofern nicht nur bloße Reistagebücher, sondern vielmehr Sammlungen von chronologisch geordneten Eindrücken, Begegnungen und Landschaftsbeschreibungen, Essays zur politischen Lage und dem Frauenbild sowie, wie es besonders in Amerika Tag und Nacht zutage tritt, der Situation der Bevölkerung abseits der Touristenviertel.

In diesem Aufsatz soll versucht werden, am Beispiel von Amerika Tag und Nacht die Reiseberichte in das Gesamtwerk einzuordnen und Aussagen über die literarischen Qualitäten des Berichtes sowie seines essayistischen Gehalts zu treffen. Diese Betrachtung rechtfertigt sich in besonderer Weise durch die Klassifizierung des Werks als Essai-Littérature durch einen Lektor von La Cérémonie des Adieux (Pilardi 1999, S. 41) [1]. Dieser reiht das Werk in eine Kategorie mit Das Zweite Geschlecht und Privilèges ein.

2. «L’Amérique au jour le jour»

Am 25. Januar 1947 trat die damals 39-jährige Simone de Beauvoir eine etwas mehr als vier Monate dauernde Reise nach Amerika an, eine Tournee auf der die, damals noch recht unbekannte und meist im Zusammenhang mit Sartre erwähnte, Existenzialistin Vorträge unter anderem an mehreren Universitäten hielt. Ihre Reise begann mit dem Flug von Paris nach New York und von dort aus mit allen möglichen Fortbewegungsmitteln kreuz und quer durch den Kontinent; zunächst nach Chicago, dann auf eine kleine Rundreise durch den Nordosten, von dort aus in den Westen und durch den Süden an der Ostküste entlang wieder zurück nach New York. Neben ihren Vorträgen nahm sie sich ausgiebig Zeit für die Erkundung vor allem touristen-untypischer Orte, wie die des New Yorker Stadtteils Harlem, in einem zur Zeit ihrer Reise noch von Rassismus – auf beiden Seiten – gebeutelten Land. In ihren Aufzeichnungen hielt sie Impressionen von Gesellschaft, Landschaft und Städten, Tagesabläufe sowie Erklärungen und Gedanken über den (sozialen) Alltag und die politische und gesellschaftliche Gegenwart der USA in den 1940ern in Form eines Reisetagebuches fest. Die Einträge sind nicht täglich gemacht worden, aber dennoch in regelmäßigen Abständen, sodass keine Brüche innerhalb der Erzählung entstehen.

De Beauvoirs Werk L’Amérique au jour le jour trägt in der deutschen Fassung den Untertitel „Reisetagebuch 1947“. Diese Bezeichnung stellt schon im Titel vor, was der Leser zu erwarten hat: eine den Anspruch auf Authentizität stellende Berichterstattung über die Reise nach Amerika, wobei „Tagebuch“ die subjektive Färbung der Beschreibungen sowie das Einflechten eigener Gedanken suggeriert. In der Bearbeitung der eigenen Aufzeichnungen wird ein Spagat zwischen dem bloßen Aufschreiben und der Literarisierung des Erlebten gewagt. Die Grenzen zwischen dem verlässlichen, objektiven Bericht und dem ordnenden, beurteilenden Tagebuch verwischen, da die Erfahrungswerte auch durch die Vorkenntnisse des bzw. der Reisenden geprägt sind.

Wie Francis und Gontier in ihrer Beauvoir-Biografie schreiben, war die Schriftstellerin schon weit vor ihrer eigentlichen Amerikareise von dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, seiner Mentalität und seiner Musik fasziniert (Francis/Gontier 1985, S.255).  Ihr Bild wurde geprägt durch Hollywoodfilme und amerikanische Schriftsteller wie Faulkner und Hemingway, über die sie mit den amerikanischen Intellektuellen lebhafte Diskussionen führte. Das Besondere an diesem Tagebuch ist, dass es nicht nur Landschaftsbeschreibungen und Aufzeichnungen des Erlebten enthält, sondern auch lose Gedanken und ganze Aufsätze über die soziale, ideologische und intellektuelle Realität des Amerikas der 1940er Jahre, an der sie Kritik übt, aber gleichsam fasziniert davon diese als kulturelle Besonderheit zu analysieren versucht.
Inwiefern gerade bezüglich Amerika Tag und Nacht der Begriff „Reisetagebuch“ treffend gewählt ist, soll im Folgenden analysiert werden.

3. Die Tagebuchform

Beim Reisetagebuch handelt es sich, gemäß Wuthenow um „eine diaristische Sonderform, nämlich um die – scheinbar – authentische Form des Reiseberichts, in welchen Stationen und Daten konvergieren“ (Wuthenow 1990, S. 165). Dabei gebe nicht das Journal an sich, sondern dessen Form der Reise Gestalt und stehe daher noch hinter literarisch überformten Reiseberichten wie z.B. Goethes Italienreise. Für Wuthenow ist für das Reisetagebuch aber weniger die Tagebuchform, als vielmehr das Niederschreiben der Reise von Belang; das Reisetagebuch ordnet er daher eher der Reiseliteratur zu (s. ebd.). In der Definition des Reallexikons der Deutschen Literatur handelt es sich bei Reiseliteratur um einen Text, in dem meist in prosaischer Form „von unterwegs berichtet wird“ (Weimar 1997, S. 258).

Der Klappentext der deutschen Fassung des Buches spricht analog dazu von einer „glänzenden, intimen Reportage“, von einem Amerikabuch, und schließt sich damit Wuthenows Deutung des Reisetagebuchs an. Gerade dieser Form ist es aber zu verdanken, dass, laut Herder, „der pragmatische Geschicht- [sic!] und Reiseschreiber beschreibt, malt, schildert; er schildert immer, wie er sieht, aus eignem Kopfe, einseitig, gebildet, er lügt also, wenn er am wenigsten lügen will“ (zitiert in: Bachmann-Medick 1997, S. 45), es ist die Wahrnehmung des Einzelnen, die gerade in der Reisebeschreibung den Blick auf das Allgemeingültige verwehrt, und verwehren muss. Diesem Umstand trägt de Beauvoir schon im Vorwort Rechnung:
[...]Trotzdem erschien es mir nicht unnütz – neben den großen Gemälden, die Kompetentere gemalt haben –, Tag für Tag aufzuzeichnen, wie sich Amerika einem Bewusstsein enthüllte: nämlich dem meinen.
Entfällt hiermit der anmaßende Versuch einer 'Studie', so kann ich doch hier ein getreues Zeugnis ablegen. Und wie jedes konkrete Experiment Subjekt und Objekt gleichermaßen in sich schließt, habe ich nicht versucht, meine eigene Person aus dieser Niederschrift auszuschalten; sie ist nur dann völlig aufrichtig, wenn ich jenen besonderen, individuellen Umständen Rechnung trage, unter denen sich eine jede Entdeckung vollzog. Aus diesem Grund habe ich die Form des Tagebuchs gewählt. (de Beauvoir 1988, S. 7)
Die angesprochene subjektive Sicht wird mit jeder Seite, auf der sie ihre Erlebnisse niederschreibt, offenbar. Sie ist von den Gedanken, die sich leitmotivisch durch de Beauvoirs Gesamtwerk ziehen, bestimmt, wie der Existenzialismus, politische Meinungsbildung oder die Rolle der Frau. Diese Themen und die sich damit erschließenden Problematiken werden in Essays ausgeführt, die in das Tagebuch eingeschlossenen sind und das freilich nicht nur auf erläuternd-analysierender Basis, sondern auch mit konkreten Ansichten, wie die Probleme, die sich in der sozialen Realität Amerikas stellen, bewältigt werden können.

In der Nachbereitung des Tagebuchs legte de Beauvoir Wert darauf, dass es als Zeitzeugnis sowohl der damaligen Situation in den USA als auch ihres eigenen Horizonts angesehen wird. Der Schuss schien jedoch nach hinten losgegangen zu sein: In Amerika wurde das Buch ob seiner kritischen Haltung mit Misstrauen betrachtet [2], und die französische Internetseite evene.fr preist es als „analyse du système américain observé durant un voyage“ [3] an. Tatsächlich kann eine analysierende Haltung der de Beauvoir nicht abgesprochen werden, immer wieder fällt durch Nebenbemerkungen auf, dass die Reisende zugleich politisch Engagierte und Schriftstellerin ist. Dem Versuch einer Studie, den sie im Vorwort verneint, ist sie trotzdem erlegen, ohne, und das sei festzuhalten, sich „ein definitives Urteil“ zu erlauben, was sie im Vorwort auch deutlich propagiert (de Beauvoir 1988, S. 7).

Im Unterschied zu anderen literarischen Genres hält sie weder ihre Person aus den Beschreibungen heraus, noch kann der Ich-Erzähler von der Autorin getrennt werden; es entfallen die typischen Anzeichen interner oder externer Charakterisierung, wie sie zum Beispiel in der autobiografischen Erzählung Eine Tochter aus gutem Hause offenbar werden, wodurch de Beauvoir selbst zur Romanfigur wurde. Das erinnernd-erzählende Ich leitet durch den Text, es hält ihn zusammen ohne gleichsam für die einzelnen Abschnitte in besonderer Weise konstituierend zu sein. Wie sich der Reisenden die Dinge erschlossen, so bekommt der Leser ein Bild Amerikas vermittelt, gefiltert durch die Wahrnehmung der de Beauvoir. Die Herausgeber von Berlin, Paris, Moskau: Reiseliteratur und die Metropolen heben das besondere Vermögen des Reisetagebuchs, zur Meinungsbildung des Lesers beizutragen, hervor, wenn sie schreiben:
Reiseliteratur, ob nun als Gattungsname operabel gemacht oder nur als Sammelbegriff verwendet, ‚entwirft und transportiert ‚images‘ und ‚mirages‘ von fremden Kulturen: Bilder und Zerrbilder, die oft weitreichende Nachwirkungen nicht nur in der Literatur sondern auch im kulturellen Selbst- und Fremdverständnis erzielt haben‘. (Brenner, zitiert in: Fähnders 2005, Einleitung)

4. Der literarische Anspruch des Reiseberichts

«Écrire, ce n’est pas traduire : c’est désigner ‘quelque chose’ qui est en
train de s’inventer, de se créer dans le moment même où on le désigne.»
– Simone de Beauvoir  –
Man kann sicher geteilter Meinung sein, was die erzählerischen Qualitäten Simone de Beauvoirs in Amerika Tag und Nacht anbelangt; so verfasste Peter Stadelmeyer eine recht harsche Kritik an diesem Buch de Beauvoirs: „Charmant erzählt, Gelegenheitsarbeit, broschiert, nicht sehr anspruchsvoll“ (ders. 1951). Jedoch ist es gerade dieses charmante Dahinerzählen, dass dem Leser das Gefühl vermittelt, mit auf die Reise zu gehen, das ihn fesselt und ihm, selbst heute noch, die Fremdheit anschaulich macht, die die Französin auf ihrer Reise empfunden haben muss. Auch ist de Beauvoir nicht die Erste, die sich diese Art des „Dahinerzählens“ zunutze macht; so schreibt Gregor Streim über Hanns Johsts Buch Maske und Gesicht. Reise eines Nationalsozialisten von Deutschland nach Deutschland: „Denn so greift sein Verfasser erkennbar und wohl auch ganz bewußt auf das Muster des feuilletonistischen Reiseberichts zurück. Im Stil der Plauderei werden impressionistische Reisebilder, anekdotisch zugespitzte Begegnungen, persönliche Erinnerungen und allgemeine Betrachtungen locker aneinandergereiht“ (Streim 2005, S. 140). Diese Beschreibung des Reisefeuilletons lässt sich insofern auf die Berichterstattung der de Beauvoir anwenden, als dass das Tagebuch in einzelne „Artikel“ aufgegliedert ist, sortiert nach Tagen und teilweise theoretischer Natur, die ein recht dezidiertes Bild über die USA vermitteln.

In besonderer Weise wird jedoch die Literarizität dieses Reisetagebuchs in den Landschaftsbeschreibungen deutlich. So schreibt de Beauvoir zu einem Besuch der Niagarafälle:
Der von Kiefern umgebene See ist gewaltig. Er ist nicht zugefroren, aber das grün-weiße Wasser scheint jeden Augenblick erstarren zu wollen. Vielleicht würde – wie ich das in einem Roman von Jules Verne gelesen habe – es genügen, einen Eiszapfen hineinzuwerfen, um diese ganze bewegte Oberfläche zum Gefrieren zu bringen. Der See ist schön wie eine Landschaft von Jules Verne, ein Hauch von Abenteuern und Wundern liegt auf ihm. Der Wind fährt über die grünen Gewässer hin und entblößt ihre weißen, stählernen Wogen – sie würden einem ins Fleisch schneiden. Ein fließendes und hartes Wasser, ein schneidendes Wasser, ganz aus Nadeln und Messerklingen. Wenn der See plötzlich erstarrte, er würde ein langes, tragisches Gewimmer ausstoßen, und das wäre herrlicher als ein Nordlicht. (de Beauvoir 1988, S. 90)
An diese lyrische Beschreibung des Sees fügt sie eher lakonisch an: „Neben dieser an unvollendeten Wundern reichen Ungeheuerlichkeit sind die Fälle selbst ein allzu mäßiges Wunder“ und: „Wasserfälle wie andere auch.“ Der hier beschriebene Gegensatz lässt das Naturwunder, die den Geist völlig beanspruchende Natur, umso kraftvoller wirken.

In der Assoziation des Gesehenen mit dem ihr Bekannten – hier die Beschreibungen von Jules Verne – macht sie zugleich plausibel, warum ihr diese Landschaft ausgerechnet in dieser Art und Weise erscheint. Gleichzeitig erzeugt die mit Metaphern gespickte Beschreibung ein sehr klares Bild im Kopf des Lesers, was ihm ermöglicht, die Situation nachzuerleben. Dadurch erlangt diese Beschreibung eine Art Allgemeingültigkeit; für den Leser, der diesen See noch nie gesehen hat, wird es nachhaltiger im Kopf hängen bleiben als eine „realistische“ Naturbeschreibung. Obwohl de Beauvoir diese Passage mit einer persönlichen Assoziation einleitet („wie ICH das […]gelesen habe“) nimmt sich selbst bei der Beschreibung zurück [4], sodass der Natureindruck als poetisches Erlebnis stehenbleibt. In dieser besonderen Ästhetik der Naturbeschreibungen von de Beauvoir wird Natur zur Naturkraft, sie wird sinnlich erfahrbar gemacht, wobei Vergleiche und Metaphern Träger dieser besonderen Auffassung von Natur sind: Das Gewöhnliche wird zum Besonderen, die besondere Anziehung der Natur liegt nicht im Getöse und der Bewegung des Wasserfalls, sondern in der ruhigen, bannenden Kraft des Sees. Die Touristenattraktion erfährt im Vergleich mit dieser wirklichen Naturgewalt eine Reduktion zur billigen Schaubude.

Diese und vergleichbare Textpassagen bieten eine besondere Ästhetik [5], weil sie nicht das offensichtlich Schöne hervorheben, sondern das Versteckte „sichtbar“ und somit wirkliche Erhabenheit erfahrbar werden lassen. Simone de Beauvoir macht auch ganz klar auf den literarischen Gehalt dieser Beschreibung aufmerksam, indem sie den Vergleich zu Jules Verne anbringt; in gewisser Weise mystifiziert sie dadurch diesen besonderen Augenblick in dem sie den See erblickt und legt gleichzeitig die Vorgehensweise der Beschreibung offen;  Ästhetisierung wird mit der Naturerfahrung in besonderer Weise in Einklang gebracht. Dabei kann man das anfangs angeführte Zitat als Leitspruch ansehen: Dieses In-Der-Schwebe-Sein des Augenblicks, in dem sie am See steht, fängt sie mit dem geschriebenen Wort in dem Rhythmus ein, in dem sich die Betrachtung ihrem Auge erschließt. So bringt sie ihn ähnlich einem Stream of Consciousness zu Papier, der dem Leser die Gedanken der Hauptfigur, in diesem Falle der Schreibenden, quasi im Erleben erschließt, eine Stilform, die sie in der 1967 erschienenen Erzählung Monolog ausgiebig ausgereizt hat.

Ein weiteres Beispiel für eine literarische Überformung des Gesehenen ist unter anderem auch die Reflexion über New York während ihrer Zugfahrt nach New London:
Ich bin über die Brooklyn Bridge gegangen, allein in einem schmalen Durchgang, der Wind fuhr durch das durchbrochene Geländer. Die Lastwagen und Eisenbahnzüge ließen die Eisenpfeiler erzittern. Gefährlich wie ein Gebirgspfad im Unwetter erschien diese Brücke. Die Türme der Batterie zeigten von ferne, gerade und unbeweglich, die ruhige Starre mittelalterlicher Zinnen. Mein einsamer Spaziergang führte mich auf komplizierten Umwegen auf die Straße hinab, so wie ein steiler Abhang sich im Tal verliert. (de Beauvoir 1988, S. 75-77)
In den Naturvergleichen und –metaphern lässt Simone de Beauvoir Assoziationen zum Topos „Großstadtdschungel“ aufkommen, ihre Beschreibung erhält eine besondere, bildnerische Qualität, die weit über das bloße Aufzeichnen des Gesehenen hinausgeht. Eine ähnliche, eine Großstadt mit Wildnis vergleichende Beschreibung führt sie für ihr Erleben der Stadt Chicago an:
Diese Stahldecke verwandelt die Avenuen in dunkle Tunnels. Die Pfeiler, von den durchfahrenden Zügen erschüttert, stöhnen, und dieses Stöhnen dringt bis in die Häuser: es ist wie die gewaltige Stimme der Natur, wie die des Windes in den Wäldern. (ebd., S. 342)
Die Assoziation Großstadtdschungel wird vor allem dadurch evoziert, dass sie keine halbe Seite weiter oben schreibt: „weder Natur noch Vergangenheit sind hier eingedrungen“ (ebd.). Der Mensch hat sich seine eigene Wildnis geschaffen, in einer Welt, die durch das Zurückdrängen der Wildnis gezeichnet ist; diesen Gegensatz bringt de Beauvoir treffend in der Beschreibung der Stadt mit Hilfe der Natur zum Ausdruck.

Dagegen nehmen sich die Notizen der diversen Partys sowie die zahlreichen Treffen mit Bekannten bzw. Bekanntschaften eher nüchtern aus: „Nach dem vierten Manhatten spreche ich englisch mit R.C. und einem Mann mit Spitzbart: D.M.D., der eine Revue für die Intelektuelle der Linken herausgibt“ (ebd., S. 33). Es erscheint bedenklich, dass de Beauvoir, nachdem sie so wortgewaltige Beschreibungen für Landschaften gefunden hat, ihren Gesprächspartner äußerlich lediglich durch seinen Bart charakterisiert. Diese seltsame Art der Distanzierung der Menschen, ihre Anonymisierung suggeriert, dass für de Beauvoir Individuen für die Konstitution des Landes unerheblich sind.

Peter Stadelmeyer war der Meinung, dass das Buch „lose aneinandergefügten Aufzeichnungen über Freunde und Bekannte“ bestehe, „von Ereignissen und Beobachtungen sind hie und da dichterische Glanzlichter aufgesetzt“ (ders. 1951). Diese Bemerkungen sind, in Anbetracht der eben festgestellten, scheinbar dahingeschriebenen Erfahrungen, die de Beauvoir in der Gesellschaft von Amerikanern und in Amerika lebenden Franzosen machte, durchaus berechtigt.


5. New York – Paris: Ein transatlantischer Gegensatz

Für die Beschreibung der Metropolen gelten andere Grundsätze als für die „normale“ Landschaft. Sie sind „metonymisch als ein sich wandelnder, von Tempo geprägter und schnelle Bildwechsel evozierender urbaner Raum gekennzeichnet, in dem die Perspektive bestimmt wird von kurzen Aufmerksamkeitsspannen“ (Fähnders u.a. 19). Es ist die bei den Futuristen beschriebene velocitá, der vielbesungene Puls der Großstadt, den auch Simone de Beauvoir bei ihren Erkundungstouren durch New York in den ersten Wochen spürt. In der Beschreibung rücken die Sätze näher zusammen, die Worte in enge Reihungen, die besuchten Orte werden Aufzählung – sie lassen dem Leser wenig Zeit zum Luftholen, zu viele Eindrücke gilt es wiederzugeben:
 Ich bin zur Spitze des Empire State Building hinaufgefahren. […] Ich sehe Manhatten, eng zusammengedrängt im Süden auf der Spitze seiner Halbinsel und sich nach Norden zu verbreiternd. Ich sehe Brooklyn, Queens, Staten Islands, das Meer und seine Inseln, ich sehe das von Gewässern zerfressene Festland, durch das zwei Flüsse sich langsam ihren Weg bahnen. […] Ich bin in die Tiefen der Stadt hinabgestiegen: lange irrte ich durch die Kellergeschosse des Rockefeller Center. Das ist eine Welt, so unbegrenzt wie die Souks in Fes, und der Wirrwarr ist auch kaum geringer. Lange Korridore, Kreuzwege mit Rolltreppen, Läden, Banken, Büros, Cafés, eine Post, eine Telefonzelle, Friseursalons, Restaurants. Mehr als einmal ertappe ich mich dabei, dass ich im Kreis herumgelaufen bin. (de Beauvoir 1988, S. 35).
Ob Simone de Beauvoir dieses Tempo ihrer Beschreibung intuitiv wählte oder ob sie es aus der Kenntnis entsprechender Literatur tat, bleibt offen. Allerdings sortiert sie zumindest die Eindrücke der ersten Tage mit Hilfe von Literatur, als ob sie selbst noch nicht in der Lage sei, die Größe der Stadt in Worte zu fassen – um im gleichen Moment festzustellen, dass sie New York nie mit Worten erfassen werde (ebd., S. 16). Ruhe findet sie auf ihren Touren in Gemäldegalerien, den Cafés, Bars und Jazzlokalen, in Kinos, auf denen sie ihr durch den Hollywoodfilm geprägtes Bild der USA schwer vereinbar mit der sich ihr bietenden Stadt empfindet.

Sucht sie anfangs noch recht häufig den Vergleich zu ihrer Heimat, verfällt sie im weiteren Verlauf der Reise dazu, die Eindrücke auf den Leser einfließen zu lassen und sie durch Naturvergleiche zu veranschaulichen, oder sucht die Vergleiche innerhalb des Erlebten: „Los Angeles ist bei weitem nicht so schön wie New York, so interessant wie Chicago“ (ebd., S. 122). Dass New York als Vergleichspunkt hinhalten muss, scheint nicht weiter verwunderlich, betrachtet man ihre Aussage: „Ich fühle mich bereits zu sehr als New Yorkerin, um meine großen Vormittagsausflüge wieder aufzunehmen; jetzt gehe ich nicht mehr mit Riesenschritten auf Entdeckungstour, sondern strolche in New York herum, als ob es mir gehörte“ (ebd., S. 309).

An sich würde das auf oben angeführte Zitat über die Faszination Amerikas als Schlusswort durchaus ausreichen, doch de Beauvoir setzt die Erfahrung der Rückreise an den Schluss, wobei sie schon früher im Buch das Verlassen eines Ortes der Reise als „kleines Sterben“ bezeichnete (ebd., S. 128); de Beauvoir wirkt bei der Abreise innerlich zerrissen: „Das Land, an dem ich so oft irre geworden bin – es fällt mir schwer es jetzt verlassen zu müssen“ (ebd., S. 367-268). Und diesen Schwermut nimmt sie mit nach Hause; das Paris, in das sie zurückkehrt scheint für sie wie die Rückkehr in eine abgenutzte, alte Bruchbude zu sein: 
Wie alt sind die Zollbeamten und wie abgenutzt ihre Uniformen! Offenbar sind sie nicht sonderlich stolz darauf, französische Bürger zu sein. […] Auf der traurigen Straße, die nach Paris führt, sind die Menschen schlecht gekleidet, die Frauen haben farblose, schlecht frisierte Haare, die Männer haben graue Gesichter und einen demütigen Gang. Das Gemüse auf dem Markt ist kümmerlich. An der Gare des Invalides kein Taxi. […] Der Himmel ist verhängt. Paris scheint erstarrt, die Straßen sind leblos und grämlich, die Auslagen lächerlich. Dort drüben funkelt jetzt in der Nacht ein ungeheurer Kontinent. (ebd.)
Es ist diese stilistisch übersteigerte Wahrnehmung des alten Europas, sein Stillstand und die Festgefahrenheit, exemplarisch festgehalten an der Stadt, von der sie nie glaubte dass sie eine andere mehr lieben könnte: Paris (ebd., S. 75). Es erscheint blass gegen das schillernde, große Amerika, und vor allem gegen das große New York, dem sie sich verbunden fühlt.


6. Der essayistische Anspruch des Reiseberichts

Eine Besonderheit dieser Aufzeichnungen ist, wie schon einleitend festgestellt, dass de Beauvoir immer wieder von der Anschauung zur eingehenderen Betrachtung gelangt; für sie ist ein Phänomen nicht einfach nur existent, es will auch beschrieben und ergründet werden. Die Beispiele hierfür sind vielfältig: allen voran natürlich die Rassenproblematik, die in den USA der 1940er noch allgegenwärtig war; der Jazz als Kunstform und Ausdruck der „schwarzen“ Lebenseinstellung; die Rolle der Frau bzw. das Frauenbild Amerikas; die Stellung der amerikanischen Schriftsteller und Intellektuellen sowie die Konstitution der USA als Land, in dem alle Staaten und Städte „ihren Stolz und ihre lokalen Empfindlichkeiten“ haben (de Beauvoir  1988, S. 345).

Der Begriff Essay wird hier verstanden als „eine Prosaform, in der ein Autor seine reflektierte Erfahrung in freiem, verständlichem Stil mitteilt“ (Weimar 1997, Bd. 1, S. 522-525), der sich durch monologischen Charakter und meist durch den Gebrauch poetischer und rhetorischer Mittel auszeichnet. Er ist der „schriftliche Diskurs eines empirischen (d.h. nicht fiktionalen) Ich über einen kulturellen Gegenstand, dessen Aspekte durch subjektive Erfahrung erschlossen worden sind und für den gleichwohl das allgemeine Interesse gebildeter Laien gewonnen werden soll“ (ebd.). Das empirische Ich ist in Amerika Tag und Nacht durch die (autobiografische) Tagebuchform bereits gegeben, was gleichzeitig die subjektive Erschließung kultureller Aspekte in der Form des Reisens bedingt. Der essayistische Gehalt des Reiseberichts erschließt sich erst durch die Aufbereitung und Kommentierung des Erlebten. Simone de Beauvoir widmet sich diesen Exkursen in jeweils eigenen Abschnitten, die von der Erzählung losgelöst sind.

Dies stellt einen Unterschied zu dem Vorgehen z.B. in autobiografischen Erzählungen wie Ein sanfter Tod dar, in dem de Beauvoirs Ansicht zum Alter und zum Tod implizit zum Ausdruck gebracht werden.
So wie in den Landschaftsbeschreibungen die Schriftstellerin hindurchscheint, so ist es bei den theoretischen Exkursen die Philosophin, die das Schreiben bestimmt, ohne dabei einen nennenswerten Stilbruch zu verursachen. Dies ist auch im Gesamtwerk ersichtlich: so wie die literarischen Schriften einen philosophischen Anspruch hegen, so hegen die philosophischen Schriften einen literarischen Anspruch. Als hervorstechendste Beispiele sind hier Die Mandarins von Paris von 1954, ein Buch, in dem im Grunde die Geschichte des Existenzialismus nachvollzogen wird, oder der Essay Der Existenzialismus und die Volksweisheit, in dem de Beauvoir Stilmittel, Vergleiche und sprachliche Bilder zur Bekräftigung ihrer Thesen anbringt.

Jedoch zieht de Beauvoir in Amerika Tag und Nacht nicht immer nachvollziehbare Schlüsse und der Schriftstellerin gelingt es nicht, den Mythos Amerika gänzlich von der von ihr beschriebenen und kommentierten Realität Amerikas zu trennen. So rühren für sie „die Weitherzigkeit, das Entgegenkommen und die Freundschaft, die Amerika so anziehend machen“ aus dem „gemeinsamen Stolz“ her, „den jeder aus seinem Titel als amerikanischer Bürger schöpft“ (de Beauvoir 1988, S. 284). Wie sich diese Ansicht mit der damals noch aktuellen und auch im selben Buch diskutierten Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe vereinen lässt, bleibt rätselhaft. Indem sie diese Frage in der Betrachtung amerikanischer Freundlichkeit so leicht übergeht, führt sie ihre eigene Diskussion ad absurdum: die des „Handicaps der Farbengrenze“ (ebd., S. 233), also dass die Weißen durch die Behandlung der Schwarzen im Süden der Staaten (ebd., S. 230) ihr eigenes Credo dementieren, dass Amerika ein Land der Revolutionäre und Emigranten sei. Einerseits ist von einer Identität als Amerikaner die Rede, andererseits führt sie immer wieder Beispiele für die offensichtliche Teilung der Identität in eine „schwarze“ und eine „weiße“ an, die sich sogar in die Sphären der Musik erstreckt: So ist für de Beauvoir der schwarze Jazz, der in den einschlägigen Viertel bzw. Etablissements gespielt wird, eindeutig zu unterscheiden vom „heute üblichen Jazz“ (ebd., S. 258). Diese Unterscheidung  wird manifestiert durch das „leidenschaftliche Privileg einer mittelbaren Mitteilung – flüchtig wie die Augenblicke selbst, deren Substanz er verklärt“ im "schwarzen" Jazz (ebd., S. 222).

Das Problem der Inkohärenz in der Betrachtung Amerikas lässt sich wohl vor allem damit erklären, dass de Beauvoir sehr viele Themen innerhalb dieses Buches diskutiert, ohne erkennbaren roten Faden innerhalb der essayistischen Verarbeitung des Gesehen. So diskutiert sie auch die Isolierung des Schriftstellers in den Staaten (s. ebd., S. 254), den frühen Verlust der Jugend (s. ebd., S. 303), die Schizophrenie der amerikanischen Frauen, die einerseits auf ihre Unabhängigkeit pochen und sich andererseits für die Männer herausputzen (s. ebd., S.53), die Passivität der Intellektuellen und der Studenten (s. ebd., S. 295, S. 334); im Grunde, so sollte man aus dieser Lektüre schließen, ist das gesellschaftliche Leben in den USA der 1940er bestimmt von aufgesetztem Schein, in dem die Bildungselite unbeachtet von der Öffentlichkeit vor sich hinwerkelt und meist am Unwillen der Verleger scheitert – ein Schluss, der nicht zuletzt dem eigenwilligen Querschnitt geschuldet ist, den Simone de Beauvoir in der Betrachtung der amerikanischen Kultur wählt.

Diesen Problemen Tribut zollend stellt sie jedoch abschließend in einer Art Synthese der vorangegangenen Gedanken und Exkurse fest:
Und jenseits von allem, was ich liebenswert oder verabscheuenswürdig gefunden habe, ist in diesem Land etwas faszinierend: das sind die ungeheuren Chancen und die Risiken, die es heute auf sich nimmt, und die Welt mit ihm. Hier stellen sich alle menschlichen Probleme in einem schwindelerregenden Ausmaß; und hier werden sie zum großen Teil ihre Lösung finden, die sie rückschauend in ein pathetisches Licht hüllen oder aber in die Nacht der Indifferenz versenken wird. Ja, das ist es, was mich im Augenblick der Abreise so tief erregt: dieses ist einer der Punkte der Erde, wo sich die Zukunft des Menschen entscheidet. Amerika lieben oder nicht lieben: diese Worte sind sinnlos. Dieses Land ist ein Schlachtfeld, und man muß leidenschaftlichen Anteil an dem Kampf nehmen, den es in sich selbst auskämpft und dessen Einsatz unsagbar groß ist.“  (de Beauvoir 1988, S. 374-375)

7. Schlussbetrachtung

Es ist eine Eigenart de Beauvoirs, ihre Weltansicht, ihre Philosophie in einen literarischen semiautobiografischen bis autobiografischen Kontext zu verpacken, wie z.B. auch in Ein sanfter Tod, Die Mandarins von Paris oder Sie kam und blieb. Auch die Art und Weise, wie sie Naturbeschreibungen literarisch auffasst, ist in der 1957 erschienenen Niederschrift der Erlebnisse ihrer Chinareise, Ein langer Marsch wiederzufinden. Obgleich sich eine gewisse Literarizität, mit Stadelmayer: „dichterische Glanzlichter“ im Amerika Tag und Nacht wiederfinden lassen, ist sie doch nicht im ganzen Werk präsent. Vieles erscheint als Niederschrift loser Gedanken, wenngleich das Werk durch eine gewisse Stilisierung Nuancen aufweist, die von der oben beschriebenen „fühlbaren“ Geschwindigkeit über klar geäußertes, kindliches Erstaunen (vor der Fahrt über die Golden Gate Bridge: „Wo ist die Stadt? Hat sie einer weggezaubert?“, de Beauvoir 1988, S. 132) bis hin zur Ruhe in der Beschreibung des Sees an den Niagarafällen.

Während die Beschreibungen der Reise eine „inventarisierende Funktion“ haben, indem sie die lokalen Gegebenheiten zusammentragen und die „‚reine Beschreibung‘ zusammenfällt mit der ‚unmittelbaren Wahrnehmung‘“ (Asholt 2005, S. 32), stellt die Beauvoir diese in ihren essayistischen Abschnitten zur Diskussion: der Leser wird nicht dazu angehalten, ihre Meinung zu teilen (was mit ihrer Aussage zusammenfällt, „kein endgültiges Urteil“ treffen zu wollen) sondern sich ein Bild zu machen; sie will nicht belehren, sondern aufzeigen und kommentieren. Die aktuell mit Begeisterung erlebende und die unmittelbaren Geschehnisse kommentierende Erzählfunktion wird verbunden mit der retrospektiv beurteilenden und zusammenfassenden. In gewisser Weise erliegt de Beauvoir dabei dem von Asholt beschriebenen Phänomen, dass eine Präsenz des Imaginären dann vorliegt, wenn „sich selbst als solche klassifizierenden literarischen Reisetexte […] nicht vollständig auf Verfahren des ‚Erzählens‘ verzichten zu können glauben“ (ders., S. 45). Denn, so Ashold weiter, es stelle sich die Frage, ob es in den Geistes- und Sozialwissenschaften überhaupt so etwas wie reine Faktizität geben kann (s. ebd.) – mit Platon gesagt: die Dichter lügen.

Dennoch oder gerade deshalb zeigt sich in diesem Werk Simone de Beauvoirs, wie Literarizität und philosophische Betrachtung in einem Text mit Anspruch auf Authentizität zusammenfallen können. Dieses Phänomen lässt sich durch die autobiografischen Schriften de Beauvoirs nachverfolgen, allen voran Eine Tochter aus Gutem Hause, in der sie quasi ihre spätere Einstellung zu Fragen der Rolle der Frau eine schon in der Kindheit geprägten Berechtigung verleiht.


Anmerkungen


[1] Der Name des Lektors findet leider keine Erwähnung.
[4] sie wechselt zum unpersönlichen „einem“ anstatt zu schreiben „sie würden mir ins Fleisch schneiden“
[5] der Begriff „Ästhetik“ folgt hier der Begriffsbestimmung des Reallexikons, Weimar Bd. 1, S. 15-19

Quellen

Ashold, Wolfgang. „Stadtwahrnehmung und Fiktionalisierung.“ in: Fähnders u.a. S. 31-45, 2005.
Bachmann-MedickDoris. „Fremddarstellung und Lüge: Übersetzung als kulturelle Übetreibung am Beispiel von Münchhausens Lügengeschichten.“ in: dies. (Hg.): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin: Schmidt, 1997.
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